OHNE MENSCHEN.
Memoiren-Fragment
 
 

Schreiben ist Ersatzhandlung, nichts weiter...

Hilfe unterwegs: ein 'Wittinger-Pils', klar, was sonst im Gasthof Bangemann in Bargfeld...

...da sitzt mir - dem Einzelnen - ein Pärchen gegenüber; er wendet mir den Rücken zu; sie - warum eigentlich und immer wieder schaut sie zu mir herüber, wirft mir Einverständnis erklärende Blicke zu: einverstanden womit? - Bis auch ich nicht umhinkann, ihr Blicke zuzuwerfen...

...nie würde sie es verstehen, warum ich es eilige habe, mein Essen zu beenden, das Lokal zu verlassen... ich will mich nicht einmischen in etwas, das mich nicht angehen kann, nicht in Celle/Niedersachsen/BRD... Warum, das wird sie nie begreifen!

Vormittags in der Bahnhofsgaststätte: Kaffee trinken und Zeitung lesen; auch in den Gesichtern und Gesten der Menschen lesen...

DIE FRAU, die mich heute morgen in ein längeres Gespräch über die Not und das Elend der Menschen, die Politik und die Politiker, über die Menschheit halt, verwickelte! Eine Amerikanerin, der man nicht ansah, daß sie Amerikanerin war/ist!!! Wie einsam, menschen- und weltverloren mußte sie doch sein, daß sie die Aufschrift meiner Tasche zum Anlaß nahm, ein Gespräch mit mir zu beginnen.

Es ist herrlich: das Trinken...

DIE BARGFELDER EINDRÜCKE: bedeutsam, überwältigend und nachklingend... Ich will sie einfach nicht beschreiben. Fahrt doch selber hin und schaut euch um.

DAS HOTEL IN CELLE wird geführt von einem 40jährigen Mann und seiner Mutter. Dreimal habe ich das Schlimmste gehört, was man nur hören kann...: die Mutter tyrannisiert ihren Sohn auf die brutalste Art und Weise, die man sich vorstellen kann. Gestern abend zB wollte er einen Brief wegbringen. (Ich bekomme alles so genau mit, weil sich alles unter meinem Fenster abspielt.) Kaum ist er weg, ruft sie ihm nach. Als er kommt, schimpft sie: »Wo warst du? Wo warst du so lange?« Dann will sie dies, dann das. Er dreht durch. »Blöde Kuh!«

EINE KLEINE RUNDREISE durch die Südheide steht heute auf dem Programm. Morgen gehts dann in den Norden. Ca. 12 km bin ich gefahren, als plötzlich sämtliche Wolken beschließen, ihren gesamten Inhalt auf mich zu ergießen. Regenkittel anziehen und los. Bis zum nächsten Ort (Eschede) noch 6 km. Das ist ein Gefühl, wenn man im strömenden Regen eine schnurgerade Straße fährt; weiter Horizont, weites Land, kein Haus, geschweige denn ein Ort in Sicht. Völlig durchnäßt erreiche ich Eschede. Dort stelle ich mich unter und warte, warte, warte... Nach ungefähr zwei Stunden hat es sich so richtig eingeregnet; ich entschließe mich, mit dem Zug nach Celle zurückzufahren. Ich gehe ins Hotel, es regnet fürchterlich, ich lege mich ins Bett und schlafe. Nach einer Stunde werde ich wach und es ist das schönste Wetter...! Was mache ich nun mit der Südheide?

ZWISCHENFALL: Vor drei Stunden stand ich an der Telefonzelle und wartete... Da biegt um die Ecke der Post ein Pärchen (ca. 25/30 Jahre). Er schimpft fürchterlich auf sie ein, sie heult. So etwas soll heute immer noch und nicht selten vorkommen. Dann schlägt er sie. Mindestens zwanzig Menschen schauen zu. Anscheinend muß das Pärchen stadtbekannt sein, denn etliche Zuschauer/PASSANTEN machen dementsprechende Äußerungen, aus denen zu schließen ist, daß er sie schon des öfteren aus fremden Betten geholt habe. So auch heute. Ich bin so verblüfft, daß keiner einschreitet und der Frau hilft (mich eingeschlossen), daß ich noch eine ganze Weile zusehe. Und nun kommt das für mich Überraschende. Ich weiß selbst nicht wie es geschieht, aber auf einmal bin ich mittendrin, packe die Frau und stelle mich vor sie. Die Folge davon ist ein blaues Auge (etwas angeschwollen) und eine leichte Abschürfung an der linken Backe (oder sagt man Wange?).

UMZUG NACH SOLTAU: Pension: Zimmer mit Dusche, WC und FERNSEHER. Der heutige und die folgenden Abende sind gerettet! Denn die Abende sind das Schlimmste... bis man sich mit genügend Rotwein müdegetrunken hat...

Ich fühle mich freier, freier vom Schmerz der Trennung, offener, doch nicht offen genug...

Auf der Fahrt nach Soltau: 50 km lang an einem Truppenübungsplatz vorbeigekommen. Die Hälfte der Lüneburger Heide kaputtgemacht durch Panzer. Permanentes Geballere. Nur langsam gelingt es den Naturschützern, die Heide von den Militärs 'zurückzuerobern'.

ES IST NUR EIN BILD, aber es haut irgendwie hin: ein Körper voller Aufschürfungen, die langsam verheilen. Meine nervösen Überreaktionen, wenn ich an bestimmte 'Dinge' denke, sind verschwunden. Ich kann fast ruhig und gefaßt denken und fühlen. Also auf dem Weg zur Heilung.

Meine Haut ist warm von der Sonne des Tages.

DIE NACHT: zu viele Gedanken, zu viele Erinnerungen, zu viel im Kopf und in den Gedärmen. Gegen 3.30 Uhr endlich eingeschlafen. Es war wie ein Fieberanfall; plötzlich eine Temperatur von 40°, sehr heftig. Hinterher: Ruhe, Beruhigung. Ja, es war so etwas wie eine sehr schmerzhafte Reinigung. Am anderen Morgen fühle ich mich ungeheuer erholt. Mir gehts gut. Aber: ich wünsche niemandem, daß er eine solche Nacht erleben muß. Es war die Hölle.

ICH habe es noch nie gehabt: dieses Gefühl: es ist nicht Einsamkeit, wenn ich auf meinem Drahtesel durch die Heide reite. Es fällt mir ungeheuer schwer, auszudrücken, was ich empfinde: es ist oft so kitschig; es klingt nach der berühmten Zigarettenreklame: ein Geschmack von Freiheit und Abenteuer... irgendwie in diese Richtung gehts schon.

DAS STEINHUDER MEER: ein Meer!!! Bis zum Nordufer bin ich geradelt und dann mit einem Segelboot (ca. 15 m lang) übergesetzt zum Südufer nach Steinhude. Auf dem MEER dürfen glücklicherweise nur Segelboote fahren. Ein ganz schöner Wind ging, und das Boot lag (für meine Verhältnisse) gefährlich schief; nachher muß ich wieder zurück! Steinhude ist leider ein Touristenkaff. Langsam geht meine Reise dem Ende zu. Ich bin in einer ruhigen, ausgeglichenen Stimmung, die ich jedem wünsche.

MEIN ARSCH nimmt die Konsistenz sehr harten, alten Leders an. Zitat: O weh o weh, was soll ich tun? Mein Arsch brennt wie Füer! (W.A.Mozart)

NATUR: der Heide-Park in der Nähe von Soltau. Ein großes Gelände, eine Art Vergnügungspark. Man findet hier alle typischen Heidepflanzen, eine Delphin- und eine Alligatorenschau und ein Restaurant und eine Mini-Eisenbahn und 100 andere Dinge mehr... ein riesengroßes Gelände. Eintritt: 10,50 DM für Erwachsene, 9 DM für Kinder. Ich bin natürlich (wieso: natürlich??) nicht hineingegangen. Auf dem Parkplatz werde ich Zeuge folgender Szene: Eltern (ca. 40-45) und zwei Jungen (ca. 10/15) wollen in den Park. Der ältere Junge will einen anderen Weg zum Eingang einschlagen als die Eltern. Diese können ihn nicht von seinem Vorhaben abhalten. Der Vater wird ernst, die Mutter jammert. Der Sohn geht seinen eigenen Weg. Letztes Argument des Vaters, das er seiner Frau (als Trost?) sagt: »Der wird schon wiederkommen, der hat ja gar kein Geld für den Eintritt.«

MARSCHMUSIK. Nachdem ich einige kleine Ausflüge in die nähere Umgebung gemacht habe, gehe ich noch ein wenig in die Stadt (Soltau). Ich komme zur Hauptstraße und finde sie von Menschenmassen gesäumt. Der gesamte Kreis Soltau / Fallingbostel hat seine Schützenvereine aufgeboten und die marschieren nun durch den Ort. Eine Riesenladung geballter Männlichkeit - und was für eine Männlichkeit - ekelerregend. Das macht mich ganz aggressiv. Zwischendrin, ganz verloren, auch einige Frauen. Manchmal habe ich den Eindruck, sie wollen ganz besonders zackig mARSCHieren. Ich flüchte in die Kneipe zu einem Bier. Nachher gehe ich ins Kino: Spiel mir das Lied vom Tod.

KOMMUNIKATION: Je länger ich unterwegs bin, gesto gesprächiger werde ich (zwangsläufig?). Ich fange sogar von selbst ein Gespräch an; bin mitteilsam: aber das ist wohl das 'Schicksal' aller Alleinreisenden. Wenn nur die Abende nicht wären.

KNEIPEN: Warum sind in diesen elenden Kneipen so wenig Frauen zu sehen? - Ich weiß, wir leben in einer Männerwelt. (Blödsinn!) Aber das ist kein Grund. - Frauen! Geht massenhaft in die Kneipen, ohne Männerbegleitung, erkämpft euch einen Platz an der Theke als Einzelne. Ich kann als EINZELNER noch überleben; aber als Frau... Überhaupt... Überhaupt Kneipen: diese norddeutschen Säufernaturen: Gott erhalte sie und uns. - Ich hab gedacht, meine Unschuld bzgl. des Trinkens sei verschwun-en ... weit gefehlt ... ich schaue mich um und bin der unschuldigste Waisenknabe.

Ich weiß auch nicht wie es weitergeht...

Traurig bin ich sowieso - daß die Reise schon ihrem Ende zugeht. - Irgendwann eines Abends dachte ich mir: Später, später schaust du dir das alles noch einmal genauer an, dann, wenn die Zeit der isolierten Selbstbeobachtung vorbei ist, dann bist du konzentrierter, wirst den Menschen und der Umwelt gerechter...

MENSCHEN: Während der  ersten zweidrei Tage in Celle fühlte ich mich ziemlich unsicher. Bin allem aus dem Weg gegangen. Dann (Im Laufe der Zeit) wurde es immer offener, freier; ich ging auf die Menschen zu, begann von selbst ein Gespräch. - Es sind z.Zt. viele auf dem Fahrrad unterwegs, und es geschieht immer wieder, daß ich plötzlich Anschluß an eine Gruppe finde, die sich aber in der nächsten Stadt schon wieder auflöst. Meistens bin ich allein. Einmal (von Walsrode nach Nienburg: ca. 40 km) in einem 'Convoy' von neun Radlern. Unterwegs haben wir zusammen Brotzeit gemacht, geteilt was wir hatten...

LEICHEN AM STRASSENRAND: die vielen Igel, Katzen, Mäuse, Vögel... Eine kleine Maus am Straßenrand: sie liegt da als ob sie schliefe

(Sommer 1982)

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T H E   E N D
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'Ohne Menschen': Collage von Auszügen aus Briefen an eine Freundin und Tagebuchnotizen von einer Fahrradtour durch die Lüneburger Heide im Sommer 1982.