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DAS RAD AN MEINES VATERS MÜHLE . . .
 
Zufällige Notizen zum Thema Leben & Schreiben

Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß an der Türschwelle und wischte mir der Schlaf aus den Augen; mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: "Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wieder und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und läßt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Tür, geh auch einmal hinaus in die Welt und erwirb dir selber dein Brot." - "Nun," sagte ich, "wenn ich ein Taugenichts bin, so istīs gut, so will ich in die Welt gehen und mein Glück machen." Und eigentlich war mir das recht lieb, denn es war mir kurz vorher selber eingefallen, auf Reisen zu gehen, da ich die Goldammer, welche im Herbst und Winter immer betrübt an unserem Fenster sang: "Bauer, miet' mich, Bauer miet' mich!" nun in der schönen Frühlingszeit wieder ganz stolz und lustig vom Baume rufen hörte: "Bauer, behalt deinen Dienst!" - Ich ging also in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der Wand, mein Vater gab mir noch einge Groschen Geld mit auf den Weg und so schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus. Ich hatte recht meine heimliche Freude, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und vorgestern und immerdar, zu Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten recht stolz und zufrieden Adjes zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm mich meine liebe Geige vor . . .
 
   1959 mußte ich diesen Text in der Schule lesen. Ich bin ihn nicht mehr losgeworden. Immer wieder taucht er auf in Erinnerungen, in depressiven Momenten, in unglücklichen Situationen; gelesen habe ich in noch zwei-, dreimal, aber das ist auch schon sehr lang her. Von seinen literarischen Qualitäten mag ich hier nicht reden, es soll einige geben, die ihn für wichtig erachten. Er ist es - für mich geworden. Er war - und ist es zum Teil noch immer - für mich eine Möglichkeit, der sogenannten wirklichen Welt zu entfliehen in die Welt, die für mich dann immer intensiver und wichtiger wurde, in die Phantasie, in die Literatur.
 
   Eine im wahrsten Sinne des Wortes "sauerländische" Welt konnte mir nichts bieten und ich fühlte mich noch nicht einmal arrogant bei diesem Gedanken. Ich hatte nur das Gefühl: Hier gehöre ich nicht hin. Und da wurde es mir nun gezeigt, wie leicht es ist, zu verschwinden, abzuhauen, zu fliehen nach Italien, das ganz gewiß (für mich - damals) kein Arkadien war. Wie schön und einfach war es, sich Träume zu erfüllen, die in den Tälern des Sauerlandes nicht die geringste Chance auf Verwirklichung hatten. Die kalte Heimat wurde warm von der Frühlingssonne der Dichtung.
 
   Mein Vater war Lokomotivführer und arbeitete auch hart - also ein schlechtes Vorbild für meine Lebensführungsideale. Es blieben die Bücher, die mir zur "lieben Geige" wurde. Zuerst besinnungslos verschlungen, dann aufmerksamer werdend sortierte ich nach nicht immer ganz bewußten Kriterien. Später konnte ich dann auch begründen, warum mir Thomas Mann besser gefiel als Gustav Freytag.
 
Später - irgendwann einmal wurde aus dem Taugenichts eine neue Figur: Alkibiades. - Verrückt und mit Eigenschaften ausgestattet, die mir nun allemal abgingen. Ich konnte eine Rolle spielen, die mir nicht zukam, die mir aber abging.
 
Es gab die Produktion der "Taugenichts"-Zeit und es gibt die Produktion der "Alkibiades"-Zeit. Beide Zeitalter hatten und haben ihre Quellen und existieren nun gleichberechtigt nebeneinander.
 
(...)
Ja,
Bruder war ich und Spießgeselle
aber auch:
Krummer Hund und Lichtgestalt
- von allen Bezeichnungen ist mir
Chamäleon die liebste ...
 
alle drei Minuten eine neue Meinung
alle fünf Minuten die Richtung wechseln
ob Athen oder Sparta :
... es ist doch der gleiche Haufen unverdauter Scheiße
der uns ununterbrochen anstinkt ...
 
Gewiß - es gab Freunde
zum Beispiel den Krummen, den Hermenmacher
(und ich der Hermenzerstörer)

(...)
 
Einer der wichtigsten Gedichtbände, die mir mit 20 in die Hände fiel, enthielt die Gedichte von Charles Olson. Darin war zu lesen : "An Gerhardt, dort, inmitten der dinge Europas, von denen er uns geschrieben hat in seinem >Brief an Creeley und Olson<" und der Essay "Projektiver Vers...". Auch nach einem Halbjahrhundert haben diese Texte nichts von ihrer Bedeutung verloren. Vieles, was in ihnen seinen Ausdruck findet, deutet auch heute noch in die Zukunft. Zwei Jahre vorher hatte ich allerdings schon ein Gedicht gelesen, das mir eine neue Richtung anzeigte, mich auf den Weg brachte: "Der Tod des Hamlet" von Rainer M. Gerhardt. Nun gab es eine Brücke, auf die ich mich langsam hinaufwagte. Dreißig Jahre später konnte ich die Ergebnisse dieses "BrückenGanges" in einem Buch veröffentlichen.
 
   
... das heißt : der Text wird (im Laufe der Zeit) weitergeschrieben ... fortgesetzt ... die Wörter kommen zu dem von ihnen selbst gewählten Zeitpunkt ...
 
Fortsetzung an einem anderen Ort!