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Kapitel 7:

IM ANFANG WAR DAS WORT -
UND ES WAR BEI DEN MACHERN,
DEN DICHTERN ...

I am a poet! I
am. I am. I am a poet, I reaffirmed, ashamed
                                           William Carlos Williams

. . .  Ja! — denn: es ist nicht gesagt, daß dieses Wort bei Gott oder sonstwem war, jeder der es besitzen will, kann es haben, wenn er die Möglichkeit hat ... die Möglichkeit ergreifen will ... man ihn läßt ... Es gelingt nicht immer — es gelingt nicht jedem — meist ist es ein Glücksfall  — läßt sich nicht erzwingen ...

     In Momenten der Sprachlosigkeit zerfallen die Worte im Mund. Sätze werden nicht zu Ende geführt, Zusammenhänge verschwinden im Nebel. Und doch ist da der Drang zu reden. Über das Schweigen zu schweigen (wie es viele tun) ist sinnlos, das Unsagbare zu sagen ist Idiotie. Ich rede.

     Je elementarer, desto unsinniger, desto mißverständlicher, desto falscher.

     Es ist wie im Märchen von Hase und Igel: die Lüge ist immer schon da und gewinnt auch noch einen Preis. Was ist der Preis? - Die Lächerlichkeit des Erfolges.

     So steht denn am Anfang die nie verstandene Liebe. Denn was ist mehr dem Mißverstehen ausgesetzt als sie... Es bleibt nur die Hoffnung, daß die Sprache nicht ganz versagt...

     Und dann die Orte ... Städte ... Landschaften ... Länder ... Von Worten umringt, könnten sie (vielleicht / im Glücksfall) bewohnbar werden. Wir könnten uns einrichten, das Leben lebensmöglich machen, den Tod ruhig erwarten ... satt und fett werden in unseren Gedanken und Gedärmen ...

     Es gibt den Beruf, die Politik, das Verbrechen, die Straße, den Himmel, die Geschichte. Es gibt Gefühle und Erkenntnisse (Ideen) ... Und es gibt (immer wieder) die Liebe ... die nie verstandene...

     Es gibt das schon einmal Gedachte und das noch nie Gelebte. Es gibt unendlich viel zu zertrümmern; es gibt unendlich viel Schutt wegzuräumen ...

     Die Schrift an der Wand ist entziffert; diese viel zitierte Schrift; aber das macht nichts ... Es ist alles gesagt, es bleiben nur die Wiederholungen: so lange bis das Verstandene sich umwandelt in die Tat. Wir können nur auswählen und weitergeben ...

     Was aber bleibt? - Jetzt, wo jeglicher Bestand aufgelöst wird in seine Bestandtteile und zerstreut wird in alle vier Richtungen ... ?

     Es gibt keine Lösungen mehr. Die Dichter schweigen schon lange. Die Propheten haben umgeschult und sind Journalisten geworden. Die Wissenschaft hat abgewirtschaftet ... Nun also sind wir am Ende und es ist die Frage, ob wir zu einem neuen Anfang finden (finden können) ...

     Aber auch da: bei den eigenen 'neuen' Formen und Inhalten ist kein Stehenbleiben möglich; auch hier muß zertrümmert werden: jeder Inhalt, jede Form muß in sich einen Selbstzerstörungssprengsatz tragen, muß vorläufig sein ...

     Was (vielleicht) noch möglich ist: Fragmente, nicht zuende Geschriebenes; Lücken, die nicht ausgefüllt werden; Momentaufnahmen; Photos; Epiphanien ... das (auch optisch) nicht / oder nur schwer / zusammenfügbare Gedicht ...

     ... die Worte zerfallen im Mund ...

     Radieschen züchten, mit dem Auto durch die Waschanlage fahren, in der Sonne liegen und in der Nase bohren - all dies sind lebenswichtigere und befriedigendere Beschäftigungen als sich hinzusetzen und Verse zu schmieden. (Fast) nutzlos ist es, Worte aneinanderzureihen, damit ein anderer (WER?) sie vielleicht mit Verstand liest. Und doch! Und doch sitzen Tausende vor einem leeren Blatt Papier und versuchen, sich selbst und dem was sie angeht einen Ausdruck zu verschaffen. Es muß also was dran sein!



»Im Anfang war das Wort . . . « — also: wie kommt man an den Anfang (zurück)?

(...) Um zu den Worten und dann vielleicht durch sie zum Wort zu kommen, bedarf es einer nahezu unmöglichen Anstrengung, einer Anstrengung, die ihrer Natur nach unsagbar ist. Es reicht nicht, sich einen Ruck zu geben, denn Bedingungen und Voraussetzungen sind auf lange Zeit hin unverrückbar, nicht zu bewegen, wie es scheint. Es hieße also, sich an einen Ort zu begeben, der als Ort gar nicht ausgewiesen ist und der andererseits überall und nirgends sich einfinden oder einstellen könnte. Und es gäbe, mit äußerst geschärfter Aufmerksamkeit und fast blindem Verlaß auf die Instinkte, sich bereitzuhalten, auf der Hut und auf der Suche, wie im Schlaf hingestreckt auf der Jagd zu sein. Ein angeblich unmöglicher Zustand. Und eine wohl nur durch Kunst noch zu erhebende Forderung und nur mit und in der Kunst zu erreichende Befindlichkeit. Nahe am Irresein, versteht sich. (...)

(Anne Duden, 1998)

Vielleicht ein Weg: Poetische Sätze bzw. Sätze über Poesie suchen (und finden), einen Aneig-nungsversuch unternehmen, eigene Sätze aus ihnen machen, um so (vielleicht) den poetischen Satz / das Wort sprechen / schreiben zu können . . .


Rolf Dieter Brinkmann, Sätze aus: Briefe an Hartmut, Rowohlt Verlag, Hamburg 1999:

(das ist zuerst einmal das Wichtigste, daß jemand Lust zu etwas hat / das Zweite ist: das genaue Hinsehen, ohne Absicht, ein Gedicht daraus zu machen — .  [124]

Ich fahre nicht ans Meer, um ein SeeGedicht zu schreiben. Ich fahre ans Meer, weil ich mich dort wohl fühle. Ich war schon oft am Meer - und ein Bild (im Gedicht) ist das Ergebnis vieler gesehener MeerBilder. Und jetzt - am Meer - ich fühle mich wohl - habe ich Lust, weiter an meinem SeeGedicht zu schreiben. Es ist wirklich absichts-los; ich hoffe, daß es genau ist, d.h. mir entspricht ...

Kein Gedicht ist ein Genuß in sich selbst usw. usw.  [129]

Ja, ich, der Leser, ich komme hinzu - ich erst erfülle dich mit Leben; ohne mich bist du totes Papier, ein leeres Wortetui ... und dann ist da noch der Autor ...

Die Lücken, der Raum oft um die Sätze des Gedichtes soll eigentlich nur verdeutlichen, daß um jedes Bild, jede Zeile, ein Umweltfeld gehört, das jeder für sich ergänzen kann.  [191]

Jetzt weiß ich auch, warum die Zeilen eines Gedichts nicht bis an den Rand "ausgeschrieben" werden: Das ist der Raum des Lesers, er muß ihn an- und ausfüllen mit seinen Gedanken, Emotionen, etc. zum Gedicht. Dabei ist die Größe des 'freien Raums' nicht identisch mit dem freien Platz, den die Zeile läßt; sie ist abhängig von der Erfahrungswelt des Lesers.

Wörter sind nur Hinweise, nicht Realität selbst, und jedes Gedicht weist aus dem Gedicht raus, (und nicht weiter zu Gedichten)  [129]

Wer nicht bereit ist, sein Leben nach der Lektüre ganz und gar umzukrempeln, der sollte keine Gedichte lesen. Ein Gedicht weist aus der Realität hinaus in eine andere, über ihr gelegene Realität hinaus. So gesehen sind Gedichte Fortschrittsmotoren.

Mehr als das auf den Seiten zu lesen ist, ist da auf den Seiten erstmal nicht zu lesen.  [193]

Einer der unsinnigsten, bescheuertsten Sätze (von Deutschlehrern gesprochen) lautet: »Was wollte der Dichter uns damit sagen?« - Diesen Dumpfbacken ist zu antworten: »Das, was du dort liest, du Matschbirne!«

es ist ja heute ein Unverhältnis zwischen Dingen und Menschen, die Dinge werden alle viel größer und zwischen den Dingen dann die einzelnen Menschen, und die bestehenden Ordnun-gen sind Dingordnungen,  [128]

... und ersticken den Menschen. Sie (die DingWelt) schnürt ihm so lange die Luft ab, bis sie ihm ausgeht und er vertrocknet. Es sei denn, er hat Gedichte ...

Form heißt im Abendland immer Zwang, eine Stilisierung des Wahrgenommenen, Erlebten, — aber wenn die Form zufällig gehandhabt wird, kommt wieder Schwung in die alte klapprige Kiste Literatur.  [141]

Die Form fällt zu - oder sie ist ein aufgezwungenes Konstrukt. »Form ist die Ausdehnung von Inhalt.« (Charles Olson) JetztZeit-Inhalt => JetztZeit-Form.

Ich bin für mehr und deutlicheres Gegenwartsbewußtsein, für den genauen Moment, und es sind immer einzelne Momente.  [125]

... aus denen sich (auch) das Gedicht zusammensetzt. - Und damit wären wir wieder beim Fragment.
=> Bitte weiterlesen : Kapitel 3: Fragmentarische Notizen ...
 



Fortsetzung folgt ... (vielleicht!)